Oktober 2024
Dieser Text spiegelt den Stand unserer Diskussion vom Herbst 2024. Er bildet die Meinung der Mehrheit unserer Gruppe LEA ab, auch wenn es Mitglieder gibt, die dem Text nicht voll zustimmen. Da wir in der derzeitigen Situation kaum emanzipatorische Kräfte sehen, argumentieren wir sehr pragmatisch und zum Teil im Gegensatz zu unseren antinationalen und antistaatlichen Positionen und beschränken uns darauf, Positionen zu unterstützen, die für ein friedliches Zusammenleben und die Menschenrechte eintreten. Wir argumentieren radikal humanistisch, versuchen, die materiellen Lebensgrundlagen aller Menschen vor Ort in den Blick zu nehmen, und stellen uns gegen jeden Antisemitismus.
Am 7. Oktober 2023 führte ein von langer Hand geplanter Angriff der Hamas und verbündeter Gruppen auf Israel zu einem pogromartigen Massaker an israelischen Zivilist*innen. Dabei tötete die Hamas in Israel über 1.200 Menschen. Wehrlose Zivilist*innen wurden ermordet, gefoltert und verbrannt, Frauen vergewaltigt und etwa 250 Menschen als Geiseln nach Gaza verschleppt.
Durch die Reaktion Israels nach dem 7. Oktober wurden in Gaza zehntausende Zivilist*innen getötet, mehr Frauen und Kinder als Männer. Siedler*innen im Westjordanland drangsalieren täglich die Bevölkerung, israelische Militäreinheiten gehen brutal gegen die Zivilbevölkerung vor und tausende Palästinenser*innen sind in israelischen Gefangenenlagern interniert.
Israel wird kontinuierlich von der Hamas, dem Iran, den Huthi und der Hisbollah mit Raketen beschossen. Der Krieg weitet sich auf den Libanon und Stellungen in Syrien, Iran und Jemen aus, die vom israelischen Militär angegriffen werden.
All dies bedeutet eine dramatische neue Eskalationsstufe in einem Konflikt, der seit Jahrzehnten andauert.
Und es bedeutet ungeheures, schwer vorstellbares Leid und Unmenschlichkeit. Wir trauern um alle Opfer.
Wir als Left Ecological Association (LEA) wollen im Folgenden unsere Einschätzung der Geschehnisse und Akteur*innen darlegen und zu innerlinken Auseinandersetzungen Stellung beziehen.
1. Die Hamas ist eine islamistische Organisation, deren Ideologie von religiösem Fanatismus und palästinensischem Nationalismus geprägt ist. In ihrem Handeln zeigt sich ihr mörderischer Antisemitismus, der seinen bisherigen Höhepunkt in dem Massaker am 7. Oktober 2023 fand. Sie unterdrückt die Bevölkerung im Gazastreifen, indem sie ihr ein Leben nach den reaktionären religiösen Vorstellungen der Muslimbruderschaft aufzwingt. Hierunter litten insbesondere Frauen, Oppositionelle und sexuelle Minderheiten. Jetzt, wo 80 % der Bevölkerung Gazas obdachlos in einer Kriegszone umherirren, Zehntausende ums Leben gekommen sind und die Lebenden von Hunger, Wassermangel, Kälte und Krankheit bedroht sind, geht es für die meisten Menschen in Gaza um das blanke Überleben. Die Hamas führt einen Guerillakrieg, der diese Opfer nicht nur in Kauf nimmt, sondern einkalkuliert. Würde sie aus ihren Tunneln auftauchen, aufgeben und die Geiseln freilassen, wäre der Krieg schnell zu Ende. Verbrechen an den Zivilist*innen im Gaza-Krieg sind also nicht nur der israelischen Kriegsführung zuzuschreiben. Die Vision der Hamas von einem judenfreien islamischen Palästina hat Gaza in den Abgrund geführt.
2. Den Krieg führt auf israelischer Seite eine extrem rechte Regierung. Ihre Mitglieder verfolgen verschiedene Ziele: die Zerschlagung der Hamas, Rache für das Massaker, die Zerstörung der Lebensgrundlagen der palästinensischen Bevölkerung, die Vergrößerung Israels oder den eigenen Machterhalt. Das Leben der Geiseln ordnen israelisches Militär und Regierung den Kriegszielen unter. Der Krieg wird nicht dazu beitragen, einem Frieden im Nahen Osten näherzukommen. Er isoliert Israel immer mehr, untergräbt seine Sicherheit und seinen Wohlstand und führt zu unendlich viel Leid und Tod in der Region. All das lässt sich nicht auf Notwendigkeiten der Selbstverteidigung reduzieren.
Die israelische Gesellschaft ist zutiefst gespalten. Es gab und gibt lang anhaltende Proteste gegen die Regierung, zuerst gegen Netanyahus Machtausweitung und Korruption, dann um das Leben der Geiseln zu retten. Verliert Netanyahu seine Macht, läuft er Gefahr, strafrechtlich verurteilt zu werden. Das Leid der palästinensischen Bevölkerung wird in dem polarisierten Konflikt in Israel weitgehend ausgeblendet.
3. Wir finden es falsch, sich wie die meisten linken Gruppen in Deutschland auf die Seite Israels oder Palästinas zu schlagen. Je nachdem, ob man die lange Geschichte antisemitischer Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens, die Kriege, die seit 1948 gegen Israel geführt wurden, und den islamistischen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober fokussiert oder die Nakba, die Besatzung nach 1967 und die jetzige Kriegssituation in Gaza, wird man die aktuellen Geschehnisse und die Gefahren der weiteren Entwicklung unterschiedlich einschätzen. Wo man sich aber bemüht, alles zusammen in den Blick zu nehmen, bleibt der Common Ground derselbe wie in allen bisherigen Friedensszenarien: Israel ist ein legitimer und – bei allen Defiziten – demokratisch verfasster Staat und Palästinenser*innen haben das Recht auf einen ebensolchen. Es ist für uns klar, dass der Staat Israel als Schutzraum für jüdische Menschen in einer Welt des Antisemitismus einen besonderen Status unter den bürgerlichen Nationalstaaten hat, und insofern sind wir solidarisch mit Israel. Natürlich wissen wir aber auch, dass die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft, ihr Rassismus und die israelische Politik zu kritisieren sind: zum Beispiel muss die Besatzung des Westjordanlandes beendet werden und es bedarf der Anerkennung und Entschädigung für Menschen, die geflohen sind oder vertrieben wurden.
Vor dem 7. Oktober schien uns eine konföderative Ein-Staat-Lösung als Modell der Koexistenz ein voraussetzungsvoller, aber möglicher Ansatz zu sein. Jetzt sind die Verfechter*innen einer „Entweder wir oder die“-Politik, also von exklusiven Ein-Staat-Lösungen „from the river to the sea“, stärker denn je, und kein Mensch kann zur Zeit konkret sagen, wie eine Lösung für einen Frieden aussehen soll. Gewiss ist nur, dass es ohne Friedensbemühungen noch schlimmer werden wird.
Wir unterstützen die Forderungen an die Hamas, die israelische Regierung, den Iran, die Hisbollah und die Huthi nach Waffenruhe, Freilassung aller Geiseln und humanitärer Versorgung Gazas und der anderen Kriegsgebiete. Kriegsverbrechen sollen als solche von Gerichten verurteilt werden.
Auf diesen Krieg haben auch die USA, die EU-Länder, Saudi-Arabien und andere Nachbarländer Einfluss. Es ist zu fordern, dass sich die Einflussnahme dieser Länder auf Beendigung des Krieges und die Versorgung Gazas fokussiert und idealerweise die Demokratisierung der Gesellschaften in der Region und einen Friedensprozess fördert.
4. Wir sehen uns als Teil einer leider marginalen Linken, die an dem humanistisch fundierten Gesellschaftsideal einer weltweiten freien Assoziation auf der Basis sozialer Gleichheit und individueller Freiheit festhält. Unsere politische Solidarität gilt den wenigen Initiativen, die sich gegen den Krieg und gegen die Verfeindung, gegen Antisemitismus und gegen Rassismus engagieren und die nicht das Existenzrecht Israels bestreiten – Initiativen wie Standing Together, Women Wage Peace / Women of the sun, Initiative Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen, Palestinians and Jews for Peace oder kollektiv für Emanzipation und Solidarität (KES). Leider sind ihre Stimmen in der innerlinken Debatte, die von einfachen Parteinahmen beherrscht wird, nur leise zu vernehmen.
5. Die Reaktionen aus der globalen Linken auf den 7. Oktober zeigen: Eine hyperkritische bis feindliche Haltung gegenüber Israel ist fast überall Standard. Grund dafür ist eine Mischung aus eingestaubten Klassikern sowie neuen Trends in der Linken: verkürzter Antikapitalismus, das schematische antiimperialistische Weltbild, Teile postkolonialer Theorie und eine Art Neo-Leninismus führen zu einem selektiven Feminismus und Humanismus, der wegschaut, wenn es um jüdische Menschen geht, und tragen dazu bei, dass das Bewusstsein für Antisemitismus in all seinen Formen zurückgegangen ist. Antisemitische Denkmuster werden erst gar nicht als solche erkannt.
Es gibt eine aktive, aggressive und in Teilen antisemitische Bewegung, die sich selbst Palästina-solidarisch nennt, dabei aber – statt Aktivist*innen, die sich für Grundrechte und Frieden vor Ort einsetzen – nationalistische oder islamistische Gruppierungen und zum Teil aktiv die Hamas unterstützt. Das Wohlergehen der Bevölkerung gerät dabei mindestens in den Hintergrund. Hierzu zählen zum Beispiel BDS, Palästina spricht, Klasse gegen Klasse, Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost und Young Struggle.
Linke Orte und Veranstaltungen, in denen sich Menschen gegen Antisemitismus positionieren, werden als Feinde markiert und angegriffen. Das hat nichts damit zu tun, ein wichtiges Anliegen – den Protest gegen Menschenrechtsverletzungen und gegen den Krieg in Gaza – dringlich zu machen. Auch erlittene Repression ist dafür keine Entschuldigung.
6. Zur Frage der staatlichen Repression: Das teilweise brutale polizeiliche Durchgreifen bei Palästina-solidarischen Demonstrationen und Uni-Besetzungen findet statt, weil es staatspolitisch gerade opportun ist, sich markant gegen Israelfeindlichkeit und Antisemitismus zu positionieren, und praktisch, den Antisemitismus als Begründung für eine verschärfte Antimigrationspolitik nutzen zu können. Wir sind nicht auf Seiten einer Regierung, die auf fragwürdiger Rechtsgrundlage Verbote anordnet und zugleich wenig bemüht ist, klarzustellen, worin denn die Gefahren und der Antisemitismus jeweils bestehen.
7. Die Hamas brüstet sich in ihren Videos vor der Weltöffentlichkeit mit ihrer sadistischen Grausamkeit und sie bekommt global Unterstützung von Bewegungen, in denen das konzertierte Massaker vom 7. Oktober mal geleugnet, mal relativiert, mal gefeiert wird. Dass sich obendrein eine Erklärung etablieren konnte, die das Massaker selbst aufspaltet in ein ‚legitimes Motiv‘ (Widerstand, Gefängnisausbruch mit Geiselnahme) und ein ‚unbeabsichtigtes Ergebnis‘ (mordlüsternes Gemetzel), macht uns fassungslos.
Das vorgebrachte Argument ist im Kern immer dasselbe: Wer unterdrückt ist und Widerstand leistet, sei im Recht. Nein! Jeder Widerstand muss sich fragen und fragen lassen: Mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck? Yossi Bartal, über dessen Positionen wir uns ansonsten nicht einig sind, hat es auf den Punkt gebracht: „Opfer-Sein von systematischer, brutaler und langjähriger Entrechtung ist keine Ausrede, nicht zu benennen, wie man sich seine Befreiung vorstellt, und wie nicht. Mit dem Massaker wurde durch Hamas ein politisches Programm deutlich präsentiert. Dazu muss sich jede*r verhalten.“
Entsprechend falsch ist auch die Behauptung, ‚unsere‘ Kämpfe um Befreiung seien alle miteinander verbunden. Wir teilen definitiv nicht dieselben Vorstellungen einer befreiten Gesellschaft!
Islamist*innen, palästinensische Nationalist*innen, Befreiungsnationalist*innen von antiimp bis dekolonial und Antisemit*innen eint ihr Antizionismus: das heißt die Feindschaft gegenüber Israel als Ganzem. Der Antizionismus funktioniert als ideologisches Bindemittel zwischen anti-israelischen Herrschaftscliquen, Unterdrückten und denen, die – mit hohem Aufwand an Projektion – an ihrer Seite zu kämpfen meinen. Hier geht es nicht um Koexistenz, nicht um Gerechtigkeit, hier geht es um die Vernichtung eines Feindes als Erlösungsversprechen. Man muss diese autoritären Visionen von Befreiung ernst nehmen – um sich dagegen zu verwahren und weder instrumentalisieren noch einschüchtern zu lassen.
Oft hat man den Eindruck, dass hinter der maßlosen Rhetorik, die zu jedem Anlass von Völkermord und Genozid spricht und Nazivergleiche bemüht, auch Projektion eigener Wünsche und auf deutscher Seite Schuldabwehr und -verlagerung stehen.
8. Problematisch sind auch „pro-israelische“ Linke, die sich dem rassistischen Mainstream andienen, sich jeglicher Kritik an der israelischen Regierung und Kriegsführung enthalten oder sie sogar positiv bewerten, wie es Teile einer israelfahnenschwenkenden linksliberalen Bubble tun. Vom Leserkreis der Zeitschrift „Bahamas“, die schon lange westlichen Zivilisationschauvinismus mit Aufklärung verwechselt und von der antimuslimischen Rechten kaum zu unterscheiden ist, brauchen wir nicht zu reden.
Ein bloßer Abwehrkampf gegen Antisemitismus und andere Verschwörungs- oder Erlösungsideologien wird innerhalb der Linken und gesellschaftlich kaum etwas erreichen. Erst recht nicht, indem man sich taktisch der „Staatsräson“ bedient und nach Sanktionen ruft, die grundrechtlich und als Propaganda mehr als zweifelhaft sind (vgl. Bundestagsresolution).
Politische Herrschafts- und Klassenverhältnisse, der Irrsinn der kapitalistischen instrumentellen Vernunft und die realen Versorgungsnöte von Menschen weltweit, all das muss Thema und Gegenstand der Kämpfe und Kritik einer Linken sein, der es um gesellschaftliche Emanzipation von unten geht. Sonst werden sich weiter die Links-, Rechts- und Liberalautoritären ihr Süppchen drauf kochen, wie sie es jetzt schon erfolgreich tun.
Linke, denen es tatsächlich um eine befreite Gesellschaft geht, sollten also weder aus Panik zur Stütze der herrschenden Verhältnisse werden, noch die Gefahren autoritär-wahnsinniger Projektionen in der Linken unterschätzen.
Wir von LEA versuchen, uns nach unseren Möglichkeiten einzubringen, wo immer wir lokal die Chance für Kämpfe sehen, welche die soziale Frage, die notwendige ökologische Wende und die Abwehr autoritärer Tendenzen miteinander verbinden.
Texte, die wir zur weiteren Lektüre empfehlen
- Beiträge von Hamza Howidy, z.B.: https://taz.de/Aktivist-ueber-Anti-Hamas-Protest-in-Gaza/!6020586
- Beiträge von Tom Khaled Würdemann, z.B.: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antisemitismus-2024/549358/israel-und-der-antisemitismus/
- http://basisgruppe-antifa.org/wp/debattenbeitrag