Der Staat des Kapitals
Der moderne Staat ist nicht neutral, er verkörpert weder ein Gemeinwesen noch den Willen des Volkes, sondern agiert als ideeller Gesamtkapitalist. Schon seine materielle Existenz hängt von Steuereinnahmen ab, also davon, dass die kapitalistische Wirtschaft funktioniert. Damit sind jeder Sozial- und Umweltpolitik enge Grenzen gesetzt.
Ideeller Gesamtkapitalist bedeutet, dass Staaten die Grundlagen des Kapitalismus schaffen und sichern. Staaten garantieren das private Eigentum an Produktionsmitteln, die Einhaltung von Verträgen und die private Aneignung der Gewinne. Das staatliche Gewaltmonopol – dass nur der Staat legitimerweise physische Gewalt in Gestalt von Polizei und Armee einsetzen darf und kann – sorgt dafür, dass diese Interessen und die öffentliche Ordnung gesichert werden.
Rolle und Aufgaben des Staats
Staaten stellen Infrastruktur bereit, in Form von Verkehrswegen, Kommunikation, Bildung und Forschung. Sie betreiben gezielte Wirtschaftspolitik, um das jeweilige nationale Kapital zu unterstützen. So fördern aktuell die europäischen Staaten, die USA, Japan und China strategische Schlüsseltechnologien wie Mikrochips mit milliardenschweren Programmen. In zerfallenen Staaten, in denen das Gewaltmonopol durch Milizen, Warlords oder Gangs aufgelöst ist, wie Haiti, Libyen oder Somalia, funktioniert die Kapitalverwertung kaum, es herrscht die Tendenz zur Raub- und Plünderungsökonomie.
Welche Strategien Regierungen verfolgen, ist unterschiedlich und wechselhaft, abhängig von ihren Möglichkeiten sowie ökonomischen und politischen Kräfteverhältnissen. Das Ziel ist der Erfolg in der Konkurrenz der Nationalstaaten, aber dafür gibt es keinen Masterplan. Die Politik der einzelnen Nationalstaaten wird in der Konkurrenz politischer Akteur*innen ermittelt. Politik basiert auf der Erwartung, mit der eigenen Strategie Erfolg zu haben, aber eine Garantie gibt es nicht.
Damit dient der Staat zwar den Interessen der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, funktioniert aber nicht wie eine Marionette, ist nicht abhängig von einzelnen Banken und Konzernen, sondern agiert relativ selbständig, im Einzelfall sogar gegen unmittelbare Interessen einzelner Kapitale. Eine direkte Abhängigkeit (die es in der Realität immer wieder gibt, ebenso die direkte Einflussnahme) ist riskant, weil das kurzfristige Profitinteresse von Einzelkapitalen den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg des nationalen Gesamtkapitals auf dem Weltmarkt und den Erfolg des jeweiligen Nationalstaates in der Staatenkonkurrenz gefährden kann.
Zum Staat gehört eine nationale Mythologie, der Nationalismus als Ideologie und die Vorstellung, er stelle ein Ideal dar, dem man sich unterwerfen muss. Im Namen des Patriotismus sollen sich alle Staatsangehörigen einfügen und Opfer bringen – auf Lohn verzichten, den Gürtel enger schnallen oder gar zur “Verteidigung des Vaterlandes” sterben, während er gleichzeitig Menschen, die nicht die Gnade der jeweiligen Staatsangehörigkeit haben, ausschließt. Die EU schottet ihre Festung Europa mit Mauer und Stacheldraht ab und verwandelt das Mittelmeer in ein Massengrab.
Der Staat als Herrschaftsinstrument
Es gibt verschiedene Formen bürgerlicher Herrschaft, die von liberal-demokratischen Systemen über verschiedene Varianten des Autoritarismus bis zum Faschismus reichen. Demokratische Elemente wie das allgemeine Wahlrecht mussten stets von Arbeiter*innen- und Frauenbewegung, von Linken und Bürgerrechtsgruppen mühsam erkämpft werden. Auch die liberale repräsentative Demokratie ist im Kern gewaltförmig, autoritär, und nicht wirklich demokratisch. Denn die Grundlagen von Ausbeutung, Herrschaft und Ungleichheit: das private Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln (Grund und Boden, Maschinen, Gebäude, Rohstoffe, Daten) durch die kleine Klasse der Bourgeoisie und damit die Kontrolle darüber stehen nie zur Wahl. Die Masse der Bevölkerung ist lohnabhängig und somit darauf angewiesen, dass ihre Arbeitskraft vom Kapital gekauft und bezahlt wird. Sie haben weder Einfluss auf die Ausgestaltung ihrer Arbeit noch darauf, was in welchen Mengen und für wen produziert wird. Die liberale Demokratie ist durch eine Entmündigung großer Teile der Bevölkerung durch Institutionen geprägt und viele Entscheidungen über wesentliche Aspekte des täglichen Lebens und Einschränkungen der persönlichen Freiheit werden nicht demokratisch getroffen.
Freiheit und Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft sind bloß formal, weil ungleiche soziale Voraussetzungen ignoriert werden. Dennoch handelt es sich um einen Fortschritt zu früheren Gesellschaften, in denen die Masse der Bevölkerung aufgrund ihrer Geburt einem niedrigeren Stand oder einer Kaste zugeordnet wurde und der Willkür von Aristokraten, Priestern und Tyrannen ausgeliefert war.
Internationale Staatenkonkurrenz und Krieg
Die internationale politische Struktur besteht aus Nationalstaaten, die gegeneinander um Macht und Einfluss ringen. Jedes Kapital ist in einem Staat verankert. Zwar operieren viele Unternehmen weltweit, was ihre Interessen, Beteiligungen und Gewinne angeht, haben aber ein nationales Hauptquartier. Ihre Investitionen, Rohstoffquellen und Transportrouten müssen im Konfliktfall durch politische und gegebenenfalls militärische Interventionen ihrer jeweiligen Nationalstaaten gesichert werden. Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist nie ausgeschlossen. Nahezu alle modernen Staaten bereiten sich durch Anhäufen von Waffen und Ausbildung von Soldat*innen ständig darauf vor.
Das Machtgefälle zeigt sich auf dem Weltmarkt sowie in internationalen Institutionen und Verträgen. Es gibt stärkere und schwächere Staaten, Zentren und Peripherien, Weltmächte, Regionalmächte und Kleinstaaten.
Den Staat überflüssig machen
Sobald sich eine linke Partei an der Regierung beteiligt, wird sie in die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten gezwungen. Das ist die Lehre aus mehr als 100 Jahren Regierungsbeteiligung von sozialistischen, sozialdemokratischen, kommunistischen und grünen Parteien. Eine emanzipatorische Linke kann deshalb nur Fundamentalopposition sein, was nicht heißt, Reformen abzulehnen oder im Fall einer faschistischen Bedrohung die Grund- und Menschenrechte nicht zu verteidigen. Denn es macht einen Unterschied, ob wir in einem liberalen Staat leben oder in einer Diktatur, die jede Form von Opposition und Protest unterdrückt.
Wir wollen über die liberale Demokratie hinausgehen. Unser Ziel ist eine Kombination aus basis- und rätedemokratischen Strukturen auf Grundlage einer sozialistischen Ökonomie, in der alle Menschen über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen entscheiden können. Dadurch würden die Aufgaben staatlicher Institutionen in die Gesellschaft zurückverlegt und der Staat überflüssig.